Das Wichtigste in Kürze:
Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine neurologische Entwicklungsstörung. In Deutschland leiden schätzungsweise mehr als zwei Millionen Erwachsene unter ADHS [1].
ADHS ist gekennzeichnet durch Symptome wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, die den Alltag einer Person erheblich beeinträchtigen können.
Die Standardbehandlung von ADHS umfasst stimulierende Medikamente wie Methylphenidat und Amphetamine sowie nicht-stimulierende Medikamente wie Atomoxetin und Guanfacin. Unter Umständen schlagen diese nicht wie gewünscht an oder führen zu Nebenwirkungen.
Infolgedessen wächst das Interesse an der Erforschung von Alternativen zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen. Erste Studien liefern vorsichtige Hinweise auf eine Wirkung von Cannabis bei erwachsenen ADHS-PatientInnen.
In der folgenden Übersicht stellen wir eine Zusammenfassung der aktuellen Studienlage zu Cannabis bei ADHS vor. Außerdem gehen wir auf Fallbeispiele von ADHS-Patient:innen und mögliche Risiken einer Cannabis Therapie ein.
1. Medizinalcannabis bei ADHS? Zusammenfassung der Studienlage
2. Fallbeispiele und Stellungnahme des ADHS Deutschland e.V.
3. Verschreibung von Medizinalcannabis bei ADHS
Universität: | King׳s College (London, Großbritannien) |
Veröffentlichung: | European Neuropsychopharmacology, 2017 |
Art der Untersuchung: | Doppelblinde, randomisierte und placebokontrollierte Studie |
Untersucht wurden: | 30 erwachsene Proband:innen mit ADHS |
Aufbau der Untersuchung:
Wesentliche Ergebnisse:
Universität: | Duke University School of Medicine (Durham, USA) |
Veröffentlichung: | Journal of Substance Abuse Treatment, 2015 |
Art der Untersuchung: | Doppelblindstudie |
Untersucht wurden: | 16 Erwachsene |
Aufbau der Untersuchung:
Wesentliche Ergebnisse:
Welcher Mechanismus für eine Wirkung von Cannabis bei ADHS verantwortlich sein könnte, ist unklar. Eine Hypothese von Forschenden: Cannabis könnte den Dopaminspiegel modulieren – und damit denselben Mechanismus nutzen, der vermutlich auch bei stimulierenden ADHS-Medikamente für eine Wirksamkeit verantwortlich ist [2].
Die potenziellen Gefahren des Einsatzes von Cannabis – insbesondere des Cannabinoids THC – bleiben nicht zu unterschätzen:
Weitere Informationen zu möglichen Nebenwirkungen findest du in unserem gleichnamigen Artikel Nebenwirkungen von Cannabis.
Speziell bei ADHS ist häufig von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauch die Rede. Eine mögliche Erklärung liefert die Selbstmedikations-Theorie. So gaben in Befragungen Personen mit ADHS eher an, Substanzen zu verwenden, um ihre Stimmung und ihren Schlaf zu verbessern, während Personen ohne ADHS nach eigenen Angaben eher auf den Rausch abzielten. [2]
Eine eindeutige Antwort auf die Hintergründe des häufigeren Substanzmissbrauchs bei ADHS gibt es nach heutigem Stand nicht.
In jedem Fall sollte eine potenzielle Cannabis Therapie bei ADHS nur in Absprache mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin durchgeführt und entsprechend betreut werden. Auf keinen Fall sollte Cannabis bei ADHS auf eigene Faust eingesetzt oder gar bestehende Behandlungen, etwa mit Methylphenidat, ohne ärztliche Absprache abgesetzt werden.
Universität: | University of Saskatchewan (Saskatoon, Kanada) und University of Manitoba (Winnipeg, Kanada) |
Veröffentlichung: | Medical Cannabis and Cannabinoids, 2022 |
Art der Untersuchung: | Fallstudie |
Untersucht wurden: | 3 Männer |
Aufbau der Untersuchung:
Wesentliche Ergebnisse:
Universität: | Duke University Medical Center (Durham, USA) und Duke Center for Addiction Science and Technology (Durham, USA) |
Veröffentlichung: | PLOS ONE, 2016 |
Art der Untersuchung: | Qualitative Analyse |
Untersucht wurden: | 268 Threads in Online-Foren |
Aufbau der Untersuchung:
Wesentliche Ergebnisse:
Die letzte Stellungnahme des ADHS Deutschland e. V. stammt aus dem Jahr 2017. Der Selbsthilfeverein sieht die Voraussetzungen für eine Behandlung von ADHS mit Cannabis darin eindeutig nicht erfüllt.
Der ADHS Deutschland e. V. verweist auf Methylphenidat als Wirkstoff zur wirksamen Standardbehandlung. Gleichzeitig bemängelt er, dass die Nebenwirkungen des Cannabis auf die kognitive Leistungsfähigkeit in keinem angemessenen Verhältnis zu den bisher wenig erforschten Wirkungen bei ADHS stünden.
Gleichzeitig räumt der Selbsthilfeverein ein, ADHS-Patient:innen bei ihrer Suche nach einer möglichen Linderung grundsätzlich nicht hindern zu wollen. [6]
Derzeit gibt es keine Informationen dazu, ob bestimmte Darreichungsformen speziell für eine Cannabis Therapie bei ADHS infrage kommen. In der großbritannischen Studie etwa wurde Sativex verwendet, ein Cannabisspray mit gleichen Anteilen an CBD und THC. Dieses ist bei Erfüllung der Voraussetzungen von 31 Abs. 6 SGB V auch in Deutschland verschreibungsfähig.
Sofern du eine Cannabis Therapie bei ADHS in Betracht ziehst, bedarf dies in jedem Fall einer Absprache mit dem behandelnden Arzt beziehungsweise der behandelnden Ärztin.
Bei einer Therapie mit Cannabisblüten spielt inzwischen das chemische Profil des verwendeten Cannabis eine entscheidende Rolle. Die Einteilung in Sativa- und Indica-Sorten gilt als überholt und wird allenfalls noch zur Orientierung herangezogen.
Die Cannabispflanze enthält unter anderem rund 100 Cannabinoide und 200 Terpene, die mutmaßlich auch in Wechselwirkung miteinander stehen.
Grob lassen sich Cannabisblüten in drei Chemotypen einteilen:
Eine Cannabis Therapie ist sehr individuell und hängt auch von den Symptomen und der Verträglichkeit der einzelnen Patient:innen ab. Allgemeine Empfehlungen für einen Chemotyp können nicht ausgesprochen werden.
Da unter ADHS-Betroffenen etwa ein Viertel bis zu die Hälfte an Angststörungen leiden [7], könnten für diese Gruppe Sorten mit potenziell beruhigendem CBD geeignet sein – also Cannabisblüten Typ II oder Typ III.
Seit 2017 ist medizinisches Cannabis nach § 31 Abs. 6 SGB V ohne Ausnahmegenehmigung verschreibungsfähig. 2022 vermeldete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 163 gemeldete Fälle, in denen medizinisches Cannabis bei ADHS seit der Neuregelung verschrieben worden war [8].
Das BfArM geht jedoch davon aus, dass die Anzahl der Verschreibungen von Medizinalcannabis insgesamt deutlich höher lag [9]. Ob und wie viel höher dabei die Zahl der ADHS-Patient:innen lag, ist unklar. Zudem sind in der Begleiterhebung nur die Behandlungen mit Cannabis enthalten, die von den Krankenkassen übernommen wurden. Statistiken zu Selbstzahler:innen liegen nicht vor.
Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war mit einer Ausnahmegenehmigung schon von 2005 bis 2017 die Verschreibung von Medizinalcannabis möglich. ADHS war in diesem Zeitraum mit 14 Prozent nach Schmerzen der zweithäufigste Grund für die Verschreibung von medizinischen Cannabis [10].
1. Ist medizinisches Cannabis für mich verschreibungsfähig?
2. Ist medizinisches Cannabis für mich erstattungsfähig?
Erste Studien geben vorsichtige Hinweise auf eine positive Wirkung von medizinischem Cannabis bei ADHS. Es fehlen weitere Untersuchungen, um eine abschließende Aussage treffen zu können. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Verschreibung von medizinischem Cannabis in Deutschland möglich.
Das BfArM meldete zwischen 2017 und 2022 163 Fälle von Cannabis-Verschreibungen bei ADHS. Allerdings sind hier nur die Verschreibungen enthalten, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen wurden. Außerdem gibt es Grund zur Annahme, dass nicht alle Fälle von Cannabis-Verschreibungen beim BfArM gemeldet wurden.
Ob bestimmte Darreichungsformen oder Sorten bei ADHS im Speziellen geeignet sein könnten, ist unklar. Tritt ADHS in Kombination mit einer Angststörung auf, könnten Sorten mit ausgeglichenem oder dominierendem CBD-Anteil in Frage kommen.
Eine Verschreibung von medizinischem Cannabis bei ADHS ist in Deutschland laut § 31 Abs. 6 SGB V grundsätzlich möglich. Das BfArM meldete zwischen 2017 und 2022 163 Fälle von Cannabis-Verschreibungen bei ADHS, wobei die Zahl in Wirklichkeit höher liegen dürfte.
Quellen:
[1] Artikel auf der Website des Deutschen Ärzteblatts: ADHS bei Erwachsenen oft unentdeckt (veröffentlicht am 02.11.2018)
[2] Studie in European Neuropsychopharmacology: Cannabinoids in attention-deficit/hyperactivity disorder: A randomised-controlled trial (Cooper, Williams et al., 2017)
[3] Studie in Journal of Substance Abuse Treatment (Special issue on Prescription Drug Abuse): An exploratory study of the combined effects of orally administered methylphenidate and delta-9-tetrahydrocannabinol (THC) on cardiovascular function, subjective effects, and performance in healthy adults (Kollins, Schoenfelder et al., 2015)
[4] Studie in Medical Cannabis and Cannabinoids: Cannabis for the Treatment of Attention Deficit Hyperactivity Disorder: A Report of 3 Cases (Mansell, Quinn et al., 2022)
[5] Studie in PLOS ONE: „I Use Weed for My ADHD“: A Qualitative Analysis of Online Forum Discussions on Cannabis Use and ADHD (Mitchell, Sweitzer et al., 2016)
[6] Stellungnahme des Selbsthilfevereins ADHS Deutschland e. V.. Cannabis-Medikation bei ADHS: Ja oder Nein? (Vorstand und Beirat des ADHS Deutschland e. V, 2017)
[7] Artikel in InFo Neurologie + Psychiatrie: Bei Ängsten und Depressionen auch auf eine ADHS achten (veröffentlicht am 20.03.2023)
[8] Bericht auf der Website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln (veröffentlicht am 06.07.2022)
[9] Artikel auf der Website des Deutschen Ärzteblatts: Begleiterhebung zu medizinischem Cannabis: Bedingt aussagekräftig (veröffentlicht am 25.07.2022)
[10] Cannabis-Report des SOCIUM Forschungszentrums für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen (Glaeske, Sauer et al., 2018)