Das Wichtigste in Kürze:
- Verschreibung von medizinischem Cannabis in Deutschland bei schwerwiegenden Erkrankungen möglich
- Studien liefern Hinweise auf mögliche Wirkung von medizinischem Cannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen
- Weitere, große Studien nötig, um Wirkungen und Nebenwirkungen von Medizinalcannabis näher zu untersuchen
Weltweit sind 1 Milliarde Menschen von Migräne betroffen [1] – bei Kopfschmerzen im Allgemeinen ist es laut WHO pro Jahr sogar jede:r zweite Erwachsene. [2]
Der Anteil der Frauen unter den Migräne-Patient:innen ist besonders hoch: Während in Deutschland 8 Prozent der Männer unter Migräne leiden, sind es unter den Frauen 20 Prozent. [3] Die Betroffenen sind oft stark in ihrem Alltag eingeschränkt.
Herkömmliche Medikamente gegen Kopfschmerzen schlagen nicht immer wie gewünscht an oder sind teilweise mit Nebenwirkungen verbunden. Werden die Medikamente regelmäßig eingenommen, kann es zum sogenannten Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz (MÜK) kommen [4].
Könnte Medizinalcannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen Abhilfe schaffen? Erste Forschungsprojekte untersuchen Wirkungen und Nebenwirkungen. In diesem Artikel findest du eine Zusammenfassung der aktuellen Studienlage und alle Informationen zu einer möglichen Verschreibung von Medizinalcannabis.
Zu den Themen:
1. Medizinalcannabis bei Kopfschmerzen und Migräne? Zusammenfassung der Studienlage
2. Kopfschmerzen und Migräne ganzheitlich vorbeugen
3. Verschreibung von Medizinalcannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen
Medizinalcannabis bei Kopfschmerzen und Migräne? Zusammenfassung der Studienlage
Medizinalcannabis wird in den letzten Jahren zunehmend als alternative Behandlung für unterschiedliche Erkrankungen diskutiert – unter anderem bei Kopfschmerzen und Migräne. Das folgende Kapitel fasst die aktuellen Studien zu Cannabis bei Kopfschmerzen und Migräne zusammen.
2021: Auswertung von Studien zu Medizinalcannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen [5]
Universität: | Larkin Community Hospital und Larkin Health System – Miami, USA |
Veröffentlichung: | Cureus Journal of Medical Science, 2021 |
Art der Untersuchung: | Review (Übersichtsstudie) |
Untersucht wurden: | 34 Studien zum Einsatz von medizinischem Cannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen |
Wesentliche Erkenntnisse der Studie und positiver Einfluss der Cannabis Therapie:
- Medizinisches Cannabis kann Dauer und Häufigkeit von Migräne sowie von Kopfschmerzen unbekannten Ursprungs verringern
- Kurzfristige Effekte: Abnahme der Schmerzintensität, Verringerung der Einnahme von Schmerzmitteln
- Langfristig: Einige Patienten berichteten von anhaltender Verbesserung ihres physischen und psychischen Gesundheitszustandes
- Weitere Studien sind nötig, um u.a. Dosierungen, Unterschiede zwischen verschiedenen Cannabissorten und langfristige Auswirkungen des medizinischen Cannabiskonsums zu beleuchten
2019: Big-Data-Auswertung zu Cannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen [6]
Universität: | Washington State University – Pullman, USA |
Veröffentlichung: | The Journal of Pain, 2019 |
Art der Untersuchung: | Big-Data-Analyse |
Untersucht wurden: | Daten von 1.300 Usern von Strainprint (App zum Tracking des Cannabis-Gebrauchs) |
- 1.300 User trackten mithilfe der App insgesamt über 12.200-mal ihre Kopfschmerzen – darunter 653 Migräne-Patient:innen, die 7.400 Migräne-Anfälle aufzeichneten
- Kopfschmerz-Patient:innen: Linderung der Beschwerden nach Inhalation von Cannabis um 47,3 Prozent
- Migräne-Patient:innen: Linderung der Beschwerden nach Inhalation von Cannabis um 49,6 Prozent
- Kein signifikanter Unterschied der Effektivität zwischen Cannabissorten mit unterschiedlichen Anteilen an CBD und THC
- Vermutung der Wissenschaftler:innen: Andere Cannabinoide oder in der Hanfpflanze erhaltene Terpene spielen ggf. wichtige Rolle bei Wirkung von Cannabis bei Kopfschmerzen und Migräne
- Einschränkung: Untersuchte Daten stammen von Nutzer:innen einer Cannabis-App, eine Verzerrung kann daher nicht ausgeschlossen werden. Weitere, placebokontrollierte klinische Studien sind nötig
Die Inhalation von Cannabis führte zu einer bemerkenswerten Linderung der Symptome: Bei Patienten mit Kopfschmerzen wurde eine Reduktion um 47,3% beobachtet, während bei Migränepatienten eine Verringerung um 49,6% verzeichnet wurde.
Sonderfall: Medizinisches Cannabis und der MÜK
Laut der deutschen Gesellschaft für Neurologie leiden weltweit 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung unter Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz (MÜK). Er kann auftreten, wenn Personen mit einer primären Kopfschmerzerkrankung – also Migräne, Spannungskopfschmerzen oder Clusterkopfschmerzen – regelmäßig Medikamente gegen Kopfschmerzen einnehmen [4].
Der Zusammenhang zwischen der Verwendung von medizinischem Cannabis bei Migräne und MÜK ist unklar. Die zwei vorliegenden Studien zum Thema kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen:
2021: Datenauswertung von Migräne-Patient:innen mit MÜK [7]
Universität: | Stanford University School of Medicine – Palo Alto, USA |
Veröffentlichung: | Headache, 2021 |
Art der Untersuchung: | Retrospektive Studie |
Untersucht wurden: | Datensätze von 368 erwachsenen Patient:innen, die zum Zeitpunkt der Beobachtungen seit mindestens einem Jahr an chronischer Migräne litten |
Wesentliche Erkenntnisse der Studie:
- Signifikanter Zusammenhang zwischen chronischer Migräne, Verwendung von Medizinalcannabis und dem Auftreten von MÜK:
- 81 Prozent der Migräne-Patient:innen, die Cannabis verwendeten, litten unter MÜK
- Bei den Migräne-Patient:innen, die kein Cannabis verwendeten, litten nur 41 Prozent unter MÜK
- Die Macher:innen der Studie raten Medizinalcannabis-Patientinnen mit chronischer Migräne und MÜK zu einer Verringerung der Cannabis-Dosis
2012: Nabilon bei Patient:innen mit MÜK [8]
Universität: | University of Modena – Modena, Italien |
Veröffentlichung: | The Journal of Headache and Pain, 2012 |
Art der Untersuchung: | Doppelblinde, aktiv-kontrollierte, randomisierte Studie |
Untersucht wurden: | 30 Personen mit lang anhaltendem, hartnäckigem Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz |
- 30 Personen mit MÜK nahmen zuerst acht Wochen lang Ibuprofen oder zuerst acht Wochen lang Nabilon (eine synthetische Form des Cannabinoids THC) ein
- Nabilon war im Vergleich zu Ibuprofen effektiver in der Verringerung des MÜK, der täglichen Einnahme anderer Schmerzmittel und des Grades der Medikamentenabhängigkeit
- Auch in der Erhöhung der Lebensqualität schnitt Nabilon im Vergleich zu Ibuprofen besser ab
- Einschränkung: Kleine Studiengröße
Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz von medizinischem Cannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen zum Auftreten von MÜK ist noch unklar. Ziehst du eine Behandlung mit Medizinalcannabis in Betracht, solltest du dies mit deinem Arzt oder deiner Ärztin absprechen. Das Ziel ist eine möglichst niedrige Dosierung des Medizinalcannabis.
Kopfschmerzen und Migräne ganzheitlich vorbeugen
Prophylaxe bei Migräne
Unter Umständen kann der Entstehung von Migräneattacken ganzheitlich vorgebeugt werden. Begleitend zu einer medikamentösen Behandlung haben sich laut US-amerikanischer National Headache Foundation folgende Maßnahmen bewährt:
- Entspannungstechniken
- angemessene Schlaf- und Ernährungsgewohnheiten
- Bewegung
- Biofeedback-Behandlung
- Akupunktur
- Massagen
- Wärme- und Kälteanwendungen [9].
Hilfreich kann es auch sein, die Trigger zu ermitteln, die einen Anfall auslösen können.
Zu den häufigsten Triggern gehören:
- Stress
- Hormonschwankungen
- bestimmte Nahrungsmittel und Getränke (z. B. Schokolade, Koffein, Alkohol)
- Schlafmangel
- Wetterumschwünge
- starke Gerüche
Die Trigger können von Person zu Person sehr unterschiedlich sein – was bei der einen Person einen Anfall auslöst, kann der anderen helfen. Ein bekanntes Beispiel ist Kaffee.
Ein Kopfschmerztagebuch kann helfen, die für dich individuellen Trigger herauszufinden. Die deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft stellt Vorlagen für Migräne- und Kopfschmerzkalender und Clusterkopfschmerzkalender online zum Download bereit.
Verschreibung von Medizinalcannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen
Seit 2017 können Ärzte und Ärztinnen in Deutschland laut § 31 Abs. 6 SGB V medizinisches Cannabis auf Rezept verschreiben. Zuvor war das nur mit einer Ausnahmegenehmigung möglich.
Im Gesetz sind keine konkreten Indikationen für die Verschreibung von Medizinalcannabis festgelegt. Oft ist daher unklar, ob medizinisches Cannabis für eine Behandlung in Frage kommt.
Kann ich mir in Deutschland Cannabis für Migräne auf Rezept verschreiben lassen?
Ob eine Behandlung mit medizinischem Cannabis bei Migräne und Kopfschmerzen in deinem Fall sinnvoll sein könnte, muss gemeinsam mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin abgewägt werden. Alle nötigen Informationen findest du unter folgenden Links:
- Ist medizinisches Cannabis für mich verschreibungsfähig?
- Ist medizinisches Cannabis für mich erstattungsfähig?
Cannabis bei Kopfschmerzen und Migräne: Darreichungsformen und Sorten
Medizinisches Cannabis muss nicht zwingend inhaliert werden. Neben der Verdampfung durch einen Vaper ist etwa die Zubereitung eines Cannabis-Tees möglich. Alle Informationen dazu findest du in unserer Übersicht der Darreichungsformen von Medizinalcannabis.
Ob bei Migräne und anderen Kopfschmerzen eine bestimmte Darreichungsform von Medizinalcannabis besonders infrage kommt, ist unklar. Wegen des schnellen Wirkeintritts ist bei akuten Beschwerden potenziell insbesondere die Inhalation geeignet:
Bei der Inhalation von verdampftem Medizinalcannabis tritt ein potenzieller Effekt sofort ein. Bei der oralen Einnahme ist er um 30 bis 90 Minuten verzögert.
Welche Cannabissorte bei Migräne?
In den vorliegenden Studien zu Cannabis bei Migräne und anderen Kopfschmerzen konnten in der Wirkung keine signifikanten Unterschiede zwischen Sorten mit unterschiedlichen Gehalten an CBD und THC festgestellt werden. Forschende mutmaßen, dass andere Cannabinoide oder Terpene für einen potenziellen Effekt bei Kopfschmerzen verantwortlich sein könnten.
Wird eine Behandlung von Migräne oder anderen Kopfschmerzen mit Cannabis in Betracht gezogen, sollte in jedem Fall ein Arzt oder eine Ärztin zu Rate gezogen werden. Gemeinsam kann ermittelt werden, ob eine entsprechende Therapie in Frage kommt und die Frage nach geeigneten Darreichungsformen oder Cannabissorten geklärt werden.
1. Ist medizinisches Cannabis für mich verschreibungsfähig?
2. Ist medizinisches Cannabis für mich erstattungsfähig?
Quellen:
[1] Review in Frontiers of Neurology: Migraine: A Review on Its History, Global Epidemiology, Risk Factors, and Comorbidities (Amiri, Kazeminasab et al., 2021)
[2] Website der World Health Organization (WHO): Headache disorders (zuletzt aktualisiert: 08.10.2016)
[3] Pressemitteilung der deutschen Gesellschaft für Neurologie: „Volksleiden“ Migräne: Ein Update (veröffentlicht am 17.05.2021)
[4] Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Neurologie: Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH) (veröffentlicht am 31.12.2021)
[5] Review in Cureus Journal of Medical Science: Medical Cannabis, Headaches, and Migraines: A Review of the Current Literature (Poudel, Quinonez et al., 2021)
[6] Studie in The Journal of Pain: Short- and Long-Term Effects of Cannabis on Headache and Migraine (Cuttler, Spradlin et al., 2019)
[7] Medication overuse headache in patients with chronic migraine using cannabis: A case-referent study (Zhang, Woldeamanuel, 2021)
[8] Nabilone for the treatment of medication overuse headache: results of a preliminary double-blind, active-controlled, randomized trial (Pini, Guerzoni et al., 2012)
[9] Website der National Headache Foundation: Facts About Migraine